Gesundheit / Kaufkraft

Gesundheitskosten sind weit mehr als hohe Prämien

ArbeitAargau hat den Grossen Rat aufgefordert, bei den Prämienverbilligungen 2024 zu handeln

ArbeitAargau hat die Mitglieder des Grossen Rats aufgefordert, eine Erhöhung der Prämienverbilligungen im Budget 2024 vorzusehen und dieses auch auszuschöpfen. Die zu erwartenden gesundheitlichen, gesellschaftlichen und finanziellen Folgekosten der aktuellen Last der Gesundheitskosten sind mit einem „Weiter wie bisher“ nicht mehr zu verantworten.

Die Prämien der Krankenversicherungen sind bereits heute sehr hoch und steigen 2024 weiter an. Nebst den ebenfalls immer höheren Energie-, Lebensmittel- oder Mietpreisen – ab 2024 zusätzlich auch noch die Erhöhung der Mehrwertsteuer – wird sich im kommenden Jahr für sehr viele Menschen im Aargau die Frage stellen: „Wie sollen wir das alles bezahlen?“

Betrachtet man die Gesundheitskosten genauer, geht die Haushaltsbelastung weit über hohe Prämienrechnungen hinaus: Je nach gewählter Franchise müssen die ersten 300 bis 2500 Franken Behandlungskosten direkt aus der eigenen Tasche beglichen werden. Dazu kommt der Selbstbehalt (10 Prozent der Kosten, manchmal mehr) und die Tagespauschale im Spital. Wie die Prämien, sind in den vergangenen Jahren auch diese direkten Kostenbeteiligungen stark angestiegen. Im Jahr 2005 (seit dann gelten die aktuellen Franchisestufen) betrugen sie pro versicherte Person noch 507 Franken, heute sind es bereits 706 Franken (siehe untenstehende Grafik). Interessant dabei: Im selben Zeitraum hat die effektiv von den Versicherten gewählte Franchise doppelt so stark zugenommen. Heute beträgt die durchschnittlich gewählte Franchise 1201 Franken. Hauptgrund hierfür ist ganz einfach: Aufgrund der stark gestiegenen Prämien wählen immer mehr Versicherte eine höhere Franchisestufe, weil sie dadurch bis zu 1500 Franken pro Jahr sparen können. Das Problem: Werden sie dennoch krank, wird Gesundheit für sie erst recht unbezahlbar.

Gemäss BFS sind fast 20 Prozent der Bevölkerung nicht in der Lage, eine unerwartete Ausgabe in der Höhe von 2500 Franken zu stemmen. Hat also jemand – um die Prämienlast etwas zu mildern – die höchste Franchise gewählt und wird krank, so bleibt dieser Person womöglich der Zugang zu einer Behandlung de facto verwehrt (trotz monatlich bezahlter hoher Prämie!). Das ist keine Schreckensvision, sondern längst Schweizer Alltag: Kürzlich gaben in einer Sotomo-Umfrage ebenfalls fast 20 Prozent der Bevölkerung an, im letzten Jahr aus finanziellen Gründen auf einen Besuch bei der Ärztin verzichtet zu haben.

Richtet man den Blick über die Grundversicherung hinaus, ist die Last der Selbstzahlungen im Schweizer Gesundheitswesen für die Haushalte noch um ein Vielfaches höher. Denn zwar ist die Schweizer Gesundheitsversorgung qualitativ sehr hochstehend und der „Leistungskatalog“ der Grundversicherung deckt Vieles ab, trotzdem werden viele Leistungen von den Krankenkassen nicht übernommen. An erster Stelle ist hier die Zahnpflege ist zu nennen: Während in fast allen europäischen Staaten die Krankenversicherung zumindest einen Teil der Behandlungskosten beim Zahnarzt übernimmt, muss in der Schweiz fast alles aus der eigenen Tasche bezahlt werden. Pro Jahr sind dies mittlerweile fast 4 Milliarden (das entspricht fast 450 Franken pro Person). Ein anderer Ausgabenposten sind die Arzneimittel: Obwohl die Versicherten bereits mit vielen Prämienmilliarden für die teuren Medikamente bezahlen (und damit auch die Milliardenprofite der Pharmaindustrie mitfinanzieren), müssen sie darüber hinaus jährlich ebenfalls nochmals fast 4 Milliarden für Medikamente und „Verbrauchsgüter“ selbst übernehmen. Zusammen genommen betragen all diese Selbstzahlungen mittlerweile fast 19 Milliarden pro Jahr – und sie sind über die letzten Jahre ebenfalls stark gestiegen, wie die nachfolgende Grafik zeigt.

 

Betrachtet man also das gesamte Kostenbild aus Versichertensicht, so kommen zu den mittleren Prämienausgaben von aktuell etwa 5000 Franken pro erwachsene Versicherte noch Selbstzahlungen von insgesamt 2200 Franken pro Person und Jahr hinzu, das heisst die Gesamtrechnung erhöht sich um über 40 Prozent. Und das ist eine allgemeine schweizweite Durchschnittsbetrachtung: Für einen älteren, multimorbiden Versicherten in einem Hochprämienkanton ist die finanzielle Situation noch viel gravierender.

Schweiz international ein Negativbeispiel
Wichtig dabei festzuhalten: Diese Situation der Finanzierung des Schweizer Gesundheitswesens ist nicht nur gefühlt nicht normal, sie ist es auch im internationalen Vergleich ganz und gar nicht. Während der einkommensabhängig finanzierte Teil der Gesundheitsausgaben in fast allen EU-Ländern gemäss OECD bei rund 80 Prozent liegt (hauptsächlich Steuer- und Lohnbeitragsfinanzierung), kommt die Schweiz nur auf knapp 30 Prozent. Etwa 40 Prozent der Ausgaben werden in der Schweiz durch die einkommensunabhängigen Kopfprämien finanziert und mehr als 20 Prozent durch die erwähnten Selbstzahlungen.
Betrachtet man nur die Selbstzahlungen im internationalen Vergleich (siehe untenstehende Grafik), so sieht man, dass die Schweiz leider einsam an der Spitze steht: Hierzulande müssen die Haushalte durchschnittlich 5.3 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für Gesundheitsausgaben direkt aus der eigenen Tasche bezahlen. Im gesamten EU-Raum sind es 2 Prozentpunkte weniger, und im (ebenso) reichen Luxemburg ist es mit 1.7 Prozent nicht einmal ein Drittel davon.

Die Krankenkassenprämien werden im nächsten Jahr ein weiteres Mal stark ansteigen. Nach einem Anstieg  im Aargau um 5,9 Prozent im laufenden Jahr werden es 2024 gar 8,8 Prozent. Mit den Prämiensprüngen 2023 und 2024 wird eine vierköpfige Familie (mit einem Kind über und einem anderen unter 19 Jahren) im nächsten Jahr Prämienrechnungen in der Höhe von insgesamt 15’200 Franken erhalten, was nochmals fast 2’000 Franken mehr sind als im letzten Jahr. Dies, ohne überhaupt ein einziges Mal eine Gesundheitsdienstleistung in Anspruch genommen oder ein Medikament bezogen zu haben. Tritt ein Krankheitsfall erst einmal ein, kommt es für die Versicherten noch teurer.

Der Anteil der öffentlich finanzierten Gesundheitsausgaben ist in der Schweiz viel zu tief. Solidarisch, d.h. über Steuermittel finanziert werden neben den Ausgaben der Kantone für die Spitäler einzig die Prämienverbilligungen. Doch ihr Gewicht an den Gesamtausgaben der Grundversicherung hat sich von über 12 Prozent im Jahr 2000 auf heute nur knapp über 7 Prozent fast halbiert. Das logische Gegenstück dieser Entwicklung: Die durchschnittliche Prämienbelastung (nach Verbilligung) hat sich für die relevanten Haushalte im selben Zeitraum von 6.5 Prozent auf 14 Prozent mehr als verdoppelt.

Massgeblich für diese Entwicklung verantwortlich sind die Kantone, welche ihre Verantwortung bei der Bereitstellung von Prämienverbilligungen nicht wahrnehmen:

  • Nichtausschöpfen des Budgets: Im Jahr 2021 schöpften 17 Kantone nicht einmal ihr – eben oft sehr bescheidenes – Budget für Prämienverbilligungen aus, und im Jahr 2022 waren es sogar 21 Kantone. In 19 Kantonen hinkt die Zunahme des Budgets 2023 zudem der Zunahme der Prämien hinterher, das heisst überall dort findet in diesem Jahr real betrachtet eine weitere Kürzung der Verbilligungen statt. Hätten im Jahr 2022 sämtliche Kantone die Gesamtheit ihrer für Prämienverbilligungen budgetierten Mittel ausgeschöpft, wären zusätzlich 234 Millionen an die bedürftigen Versicherten ausbezahlt worden – eine um 9 Prozent höhere Summe.

 

Der Kanton Aargau hat im Jahr 2022 sein Budget für die Prämienverbilligungen nur zu 94 Prozent ausgeschöpft

  • Verdrängungseffekt: Obwohl dies rechtlich sehr umstritten ist, setzen die Kantone seit Jahren die für Prämienverbilligungen bestimmten Mittel (inklusive des Bundesbeitrags) auch für Prämienerstattungen der Sozialhilfe und der Ergänzungsleistungen ein. Dies wider der Tatsache, dass ihnen dafür gesetzlich unmissverständlich eine separate und damit zusätzliche Verantwortung obliegt. Das Resultat dieser umstrittenen Praxis: Während im Jahr 2000 noch mehr als zwei Drittel (68 Prozent) aller Mittel für Prämienverbilligungen effektiv für die individuelle Verbilligung der Prämien von Haushalten mit bescheidenen Einkommen verwendet wurden, waren es im Jahr 2021 aufgrund der demografischen Entwicklung (mehr EL-Beziehende) nicht einmal mehr die Hälfte (46 Prozent).

Auf Bundesebene ist vorerst keine substanzielle Verbesserung zu erwarten. In der Herbstsession hat das Parlament abschliessend über die Prämienverbilligungsinitiative (2020) respektive den Gegenvorschlag befunden: Von den Forderungen der Initiative, die nun wohl im kommenden Jahr vors Volk kommen wird, ist ein völlig unzureichender Gegenvorschlag übrig geblieben.


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